Empfehlungen für ein kindgerechtes Familienrecht
Eine Familienrechtsreform bedarf eines transparenten, partizipativen und umfassenden Konsultationsprozesses vergleichbar der Reformprozesse in Australien und Großbritannien.
- Stellungnahme der Geschäftsstelle des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. vom 6.2.2023 (DV 4/23) zum Selbstbefassungsantrag in der Ausschussdrucksache 8/SOZ/17 des Ausschusses für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landtags von Sachsen-Anhalt
- Empfehlungen des Deutschen Vereins für eine Reform des Familien- und Familienverfahrensrechts unter Berücksichtigung von häuslicher Gewalt, DV 16/21 vom 20.9.2022
- Empfehlungen des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Jahresbericht 2021 vom November 2022, S. 24 ff.
- Positionspapier 174/23 der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e.V.: Maßnahmen für eine verbesserte Einhaltung und Beachtung der Istanbul-Konvention und eine kindgerechtere Justiz, 20.4.2023
Empfehlungen für ein kindgerechtes Familienrecht der Verfasser/-innen der Studie "Familienrecht in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme", Stand Dezember 2022:
1. Vorrang des Kontinuitätsprinzips
Sicherheit und Stabilität für physisch und psychisch gesunde Kinder
2. Kindeswille/Kindesbefragungen
Kindesbefragungen/Ermittlung des Kinderwillens in Fällen ohne Verdacht
einer Kindeswohlgefährdung1:
2 a)
Festlegung kinderpsychologisch basierter, alters- und entwicklungsgerechter Kriterien für „Augenschein-Prüfungen“ und Gespräche mit dem Kind
2 b)
Ziel ist die Prüfung zur Anwendung des Kontinuitätsprinzips. Das Kennenlernen des Kindes und seines direkten und unmittelbaren Umfelds stehen im Mittelpunkt
2 c)
Limitierung der Zahl der „Augenschein-Prüfungen“ durch die familienrechtlichen Akteurinnen und Akteure pro Kind und Jahr
2 d)
Verpflichtung zur Aufzeichnung der Begegnung mit den Kindern, Archivierung der Aufzeichnungen und verbindliche Festlegungen zur Verwendung dieser unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte des Kindes
Bei Verdacht einer Kindeswohlgefährdung:
2 e)
Kinderbefragungen nach verbindlich festgelegten Kriterien, um Re-Traumatisierungen zu vermeiden und nur durch dazu ausgebildete Fachkräfte Verpflichtung zur Aufzeichnung von Kinderbefragungen, Archivierung der Aufzeichnungen und verbindliche Festlegungen zur Verwendung dieser unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte des Kindes
3. Familienrichterinnen und Familienrichter
3 a)
Prüfung und Anpassung von Ausbildungsinhalten zum Familienrecht
3 b)
Verpflichtende umfassende Qualifizierung und kontinuierliche Weiterbildung zu kinderpsychologischen Aspekten, familiären Dynamiken, Gutachten, etc. und damit Befähigung zur Verantwortung qualifizierter Entscheidungen
3 c)
Supervision, Kontrollinstrumente
3 d)
Gesetzgeberische Mankos lösen: Reduzierung der Komplexität der Verfahren
3 e)
Dem hohen Verantwortungsbereich angemessene Besoldung
4. Sachverständige
4 a)
Beauftragung von Familiengutachten – anhand verbindlicher inhaltlicher Kriterien für eine Beauftragung der Erstellung – ausschließlich bei Verdacht einer Kindeswohlgefährdung2
4 b)
Verbindliche Vorgaben für die Qualifikation von Sachverständigen für Familiengutachten, Voraussetzung für die Zulassung bei Gericht müssen eine Kassenzulassung, nachgewiesene Kenntnisse zu Gewaltformen gemäß Istanbul-Konvention und eine mindestens fünfjährige praktische Tätigkeit in einer Praxis/Klinik sein
4 c)
Verbindliche evidenzbasierte, wissenschaftliche Qualitätsstandards für familienpsychologische Gutachten
4 d)
Datenerhebungen zu familienrechtlichen Gutachten (Zahl pro Jahr, wirtschaftliche Bedeutsamkeit, Qualifizierung der Sachverständigen, Geschäftsmodelle etc.)
4 e)
Weitestgehende Entflechtung wirtschaftlicher Interessen bei der Reformierung des Familienrecht
4 f)
Beauftragung anhand einer Liste von fachlich qualifizierten Sachverständigen des jeweiligen Bundeslandes, die nachvollziehbar systematisch abgearbeitet wird
4 g)
Verpflichtung zur regelmäßigen Fortbildung
5. Verfahrensbeistandschaft
5 a)
Prüfung der grundsätzlichen Notwendigkeit von Verfahrensbeiständen
Übergangsweise:
5 b)
Bestellung von Verfahrensbeiständen – anhand verbindlicher Kriterien ausschließlich bei Verfahren mit Kindeswohlgefährdung
5 c)
Verbindliche Festlegung des geeigneten beruflichen Hintergrunds – Notwendigkeit einer kinderpsychologischen oder pädagogischen Ausbildung und mindestens drei Jahre niedergelassene/praktische Tätigkeit
5 d)
Möglichkeiten zur Abberufung und/oder Sanktion bei Ungeeignetheit wie bspw. bei nicht auftragsgemäßem Handeln oder Interessenkollisionen mit Elternrechtsverbänden
5 e)
Bestellung anhand einer Liste von fachlich qualifizierten Verfahrensbeiständen des jeweiligen Bundeslandes, die nachvollziehbar systematisch abgearbeitet wird
6. Jugendämter
6 a)
Qualifizierungsoffensive bei Aus- und Weiterbildung
6 b)
Schaffung qualifizierter unabhängiger Kontrollinstanzen sowie Einsatz von Kontrollinstrumenten nach innen und außen
6 c)
Maßnahmen zum verantwortungsvollen Umgang mit Macht und Machtasymmetrien
6 d)
Reduzierung der Fallzahlen und maximale Fallzahlen pro Mitarbeiterin/Mitarbeiter
6 e)
Dem hohen Verantwortungsbereich angemessene Entlohnung
7. Keine richterliche Anordnung/Herbeiführung eines Wechselmodells aller zeitlichen Ausprägungen in konflikthaften Elternbeziehungen
8. Inobhutnahmen und Umplatzierungen zum anderen Elternteil
Beschleunigte Prüfung anhand von Kindeswohlkriterien von Entscheidungen zur Änderung des Lebensmittelpunktes – insbesondere Inobhutnahmen – von zuvor psychisch und physisch gesunden und sozial integrierten Kindern und ggf. Rückführung der Kinder zum zuvor überwiegend hauptbetreuenden Elternteil
9. Elternberatung/Mediation
Recht auf begründete Ablehnung von Elternberatung, Mediation etc., insbesondere bei Gewalthintergrund gemäß Istanbul-Konvention. Keine
Androhung oder Umsetzung sorgerechtlicher Konsequenzen bei begründeter Ablehnung.
10. Reduzierung von Dauer und Komplexität familienrechtlicher Verfahren
11. Prüfung der Anbieter von Aus- und Weiterbildung im familienrechtlichen System auf das Neutralitätsgebot. Ausschluss bei Verletzung des Neutralitätsgebots
12. Ausweitung von Datenerhebungen im familienrechtlichen Kontext sowie die Erweiterung bzw. Anpassung amtlicher statistischer Merkmale
13. Ausweitung der wissenschaftlichen Grundlagen
14. Durchgängig alle Ausbildungen und Weiterbildungen, die in der Arbeit mit Kindern münden (können) im Sinne des Kinderschutzes prüfen und anpassen. Neben der notwendigen Qualifikation, ist auch die persönliche Eignung der Menschen einzubeziehen.
15. Einrichtung von regionalen Ombudsstellen für Betroffene sowie zur Dokumentation für wissenschaftliche Zwecke
16. Einsetzung einer Enquetekommission des Bundestages
Fußnoten: Kindeswohlgefährdung im Sinne von Vernachlässigung, Misshandlung, sexualisierter Gewalt sowie Traumatisierung infolge miterlebter häuslicher Gewalt gemäß Istanbul-Konvention
Strukturelle Defizite im Familienrecht
- Belastung statt Entlastung des Kindes durch Zahl, Komplexität und Dauer der Verfahren
- Fehlende verbindliche situations-, alters- und entwicklungsgerechte Kindeswohlkriterien für Kindesbefragungen
- „Elternrecht“ vor Kinderrecht und Kindeswohl
- Missachtung des Kontinuitätsprinzips bei Fällen ohne Kindeswohlgefährdung
- Inobhutnahmen aufgrund ungeprüfter Falschaussagen
- Änderung von Lebensumständen von Kindern – ohne Gefahr im Verzug – durch einstweilige Anordnungen
- Möglichkeiten der Präjudizierung über „Kartellbildung“ von Verfahrensbeteiligten
- Ungenügende Aus- und Weiterbildung von Familienrichterinnen und -richtern zu kinderpsychologischen Kriterien, familiären Dynamiken, Gutachten, etc.
- Überlastung von Familienrichterinnen und -richtern, hoher Erledigungsdruck
- Grundsätzliche Pflicht zur Einholung von Sachverständigengutachten statt Befähigung von Richterinnen und Richtern = Gutachtenindustrie
- Fehlende verbindliche Standards für die Qualifikation von Sachverständigen und fehlende verbindlichen Qualitätskriterien bei der Erstellung familienrechtlicher Gutachten
- Fragliche Rolle und Qualifikation von Verfahrensbeiständen, Erhöhung von Komplexität, Machtmissbrauch
- Hohe Komplexität der Verfahren u.a. durch eine Vielzahl von Akteuren und Begünstigung der „Abschiebung“ von Verantwortung
- Anordnung/Herbeiführung von Wechselmodellen in konflikthaften Elternbeziehungen, Umgehung bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung zum paritätischen Wechselmodell durch Anordnung/Herbeiführung weitreichender Wechselmodelle
- Einseitige Aus- und Weiterbildung von Verfahrensbeteiligten durch Lobbyisten und lobbynahe Anbieter
- Unterbezahlung und Überlastung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendämter sowie fehlende Kompetenzen und fehlende geeignete Instrumente zum Umgang mit Hochkonflikthaftigkeit; Fehlende Kontrollinstanzen und -instrumente
- Umsetzung von Elternberatung/Mediation durch Androhung oder Umsetzung sorgerechtlicher Konsequenzen, Inkaufnahme sekundärer Kindeswohlgefährdung
- Fehlende Kontrolle und Supervision
- Fehlende Definitionen gebräuchlicher Begrifflichkeiten, fehlende Daten und fehlende fundierte – v.a. empirische – wissenschaftliche Grundlagen als Referenz für Entscheidungen
- Möglichkeit ideologisierter Rechtsprechung bei gleichzeitiger Nicht-Berücksichtigung der wissenschaftlichen Basis/Literatur in der Rechtsprechung, vor allem der bindungstheoretischen, entwicklungspsychologischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Forschungsbedarf
Datenlücken schließen,
die wissenschaftliche Basis stärken
Um Kinder und ihre Bedürfnisse familienrechtlich besser berücksichtigen zu können, sind Datenerhebungen und Forschungsarbeiten notwendig, u.a. zu:
1.
Reflexion/Definition von Begriffen wie „Kindeswohl“ und „Hochkonflikt“ etc. im Familienrecht
2.
Untersuchung der Rolle von Persönlichkeitsstörungen in familienrechtlichen Verfahren
3.
Agierende des Familienrechtssystems, ihre Rollen und Aufgaben, Empfehlungen
4.
Datenerhebungen und ggf. Notwendigkeit der Anpassung statistischer Merkmale (Alter/Zahl in familienrechtlichen Verfahren betroffener Kinder, Zahl der Verfahrensanträge pro Kind, Dauer aller Verfahren pro Kind, Vorkommen gerichtlich angeordneter bzw. initiierter Wechselmodelle etc.)
5.
Datenerhebungen zur Beauftragung von familienrechtlichen Gutachten (Zahl pro Jahrwirtschaftliche Bedeutsamkeit, Qualifizierung der Sachverständigen, Geschäftsmodelle etc.)
6.
Auswirkungen auf Kinder und Gesellschaft bei umgangsberechtigten Elternteilen, die nachweislich: Kinderpornografie konsumieren, pädophil sind, häusliche Gewalt ausüben, sonstig gewalttätig oder kriminell sind, unter fortwährender Suchtproblematik leiden, stalken, den anderen Elternteil fortlaufend unfundiert diskreditieren, schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen aufweisen etc.
7.
Gerichtlich angeordnetes Wechselmodell – eine kritische Reflexion (Elternwohl, Kindeswohl, beides?), Auswirkungen des Wechselmodells in konflikthaften Fällen auf betroffene Kinder in Deutschland sowie eine internationale Vergleichsstudie
8.
Studien zu Kommunikationsnetzwerken zum Wechselmodell
9.
Auswirkungen familienrechtlicher Verfahren auf betroffene Kinder unter besonderer Berücksichtigung von Kinderbefragungen durch Dritte und Dauer der Verfahren sowie des seelischen Missbrauchs von Kindern – Instrumentalisierung und Manipulation des „Kindeswillens“
10.
Auswirkungen von familienrechtlich angeordneten Änderungen insbesondere langjähriger Betreuungsmodelle auf Kinder und ehemals betroffene Erwachsene
11.
Werdegang und Wohlbefinden: Studie mit Erwachsenen, die im Residenzmodell sowie in einem Wechselmodell aufgewachsen sind
12.
Gewaltprävention in familienrechtlichen Verfahren (Beratungszwang, Androhung sorgerechtlicher Konsequenzen mit dem Ziel des Abschlusses von „Vergleichen“ zwischen den Eltern etc.)
13.
Elternberatung und Mediation – Chancen, Wirkungen und Grenzen
14.
Agierende, Instrumente und Mechanismen der Einflussnahme im Familienrecht, Untersuchung von Narrativen/Kommunikation
15.
Untersuchung und Aufarbeitung von Inobhutnahmen, Langzeitfolgen, Langzeitschäden, gesamtgesellschaftliche Schäden und deren Kosten
16.
Aus- und Weiterbildungen familienrechtlich Beteiligter: Entwicklungen, aktueller Stand, Empfehlungen